Ein Schlag, ein Tropfen
"Wasser!"
Eine ruhige, aber drängende Stimme.
"Nein..."
Nur ein schwaches Flüstern.
"Aber du musst doch etwas trinken, ein kleines Bisschen!"
Langsam schieben sich schlanke Finger unter das Haar und heben trotz der rauen Schwielen an den Fingern zärtlich den Kopf an. Die Haarsträhnen waren früher einmal blond gewesen, doch nun sind sie dunkel vom Fett und dem kalten Schweiß, der sie auf den Schädel klebt. Der Geruch des Schweißes wird schon längst in den Hintergrund gedrängt und von anderen überlagert, dem Eiter der nicht aus der langsam schwärenden Wunde weichen will und der Hoffnungslosigkeit, welche aus allen Poren an die Oberfläche drängt, um sich wie Bodennebel im gesamten Raum auszubreiten.
An die trockenen, aufgesprungenen Lippen wird vorsichtig ein Tonbecher gesetzt, um das Trinken zu ermöglichen. Ein paar zögerliche Schlucke kommen zu Stande, doch viel zu schnell folgt ihnen ein Hustenanfall, welcher wieder von einem Großteil des Wassers begleitet wird. Mögen die zahllosen kleinen Fältchen um Mund und Augen früher einmal heiteres Lachen begleitet haben, heute graben sie sich leidvoll tief in das blasse Gesicht. Langsam öffnen sich die trüben Augen wieder, einst waren sie grün wie die Weiden vor Tesso, viel zu tief und beschattet liegen sie nun jedoch unter geschwungenen Brauen.
"Danke..."
Wieder nur ein Flüstern, diesmal begleitet vom fernen Hauch eines Lächelns.
"Du musst doch trinken, Mutter. Auch wenn es dir so schwer fällt."
Die schwieligen Finger gleiten unter dem Kopf hervor, betten ihn auf das raue Kissen, streichen über den Kopf und eine Strähne zurück, legen sich auf die Stirn um die Temperatur zu fühlen. Kalter Schweiß über glühender Haut, wie so viele Male zuvor.
"Dann versuch etwas zu ruhen, bis Alma wieder kommt um nach dir zu sehen."
Sanft streicht die Hand weiter über Stirn und Wangen. Die Augen unter den Fingern flattern kurz, werden dann aber weit aufgerissen. Für einen Moment huscht der Blick ziellos, fast schon panisch, umher, findet dann ein Ziel und klärt sich.
"Nein! Inepha, du weißt doch... ich kann nicht mehr schlafen."
Die Augen, welche den Blick erwidern, werden niedergeschlagen. Ein leichtes Kopfnicken und pechschwarze Haare fallen nach noch davor wie ein Schleier.
"Ja, ich weiß, Mutter..."
Ein leises Pochen lässt die wachende Frau zur Tür herum fahren und sich sogleich erheben. Ihr erster Schritt lässt sie kurz wanken ob des langen Kniens, dann ist sie schnell heran und rückt mit kräftigen Händen zur Seite, was vorher einmal eine Haustüre war. Schwere Eichenbretter, teilweise verkohlt und mit Seilen notdürftig zusammen gebunden.
"Alma, ich danke dir für dein Kommen!"
Sie breitet die Arme mit den Handflächen nach oben aus und umarmt die weißhaarige Frau, welche in einem grünen Leinenkleid vor ihr steht, vor dem niedergehenden Regen nur geschützt durch einen ledernen Überwurf um Kopf und Schultern.
"Nicht doch, mein Kind", erwidert sie die Umarmung, haucht ihr zur Begrüßung einen Kuss auf jede Wange und überlässt ihr den Weidenkorb, den sie über dem Arm herangetragen hatte. Inepha verschließt den Eingang wieder mit der Konstruktion und wendet sich der kargen Feuerstelle im offenen Kamin am Ende des kleinen Raumes zu. Mit einem trockenen Scheit, einem langen Schürhaken und geübten Fingern hat sie die Glut schnell wieder entfacht und schiebt sogleich den Bronzetopf am drehbaren Haken über die Flammen. Währenddessen zieht sich Alma nacheinander die beiden Stühle vom Tisch heran und setzt sich ans Kopfende des Bettes.
"Ich grüße dich, meine liebe Imara."
Und sie beugt sich über die liegende Frau, um auch sie mit einem Kuss auf jede Wange zu begrüßen. Derweil werden drüben am Feuer Kräuter aus dem Korb hervorgeholt und ins allmählich aufkochende Wasser geworfen. Dann trägt Inepha den Weidenkorb heran, stellt ihn auf dem zweiten Stuhl ab und wendet sich wieder ihrer Aufgabe zu.
"Alma...", flüstert die Liegende. Wieder huscht der Schatten eines Lächelns über ihr Gesicht und sich versucht sich sogar auf die Ellbogen aufzustützen. Doch die alte Frau unterbindet dies sofort mit einem sanften aber bestimmenden Druck auf ihre Schulter.
"Aber nicht doch, meine Kleine. Du weißt doch, weshalb ich hier bin - nicht, um mit dir zu tanzen - noch nicht."
Ein aufmunternd gemeintes Lächeln begleitet ihre Worte. Schnell wendet sie sich aber ab und ihrem Korb zu. Nacheinander holt sie saubere Leintücher, mit Pergament verschlossen Tiegel und mehrere blitzblanke Klingen in unterschiedlichen Größen und Formen hervor, breitet sie feinsäuberlich nebeneinander auf dem zweiten Stuhl aus.
"Einen Augenblick noch, dann ist die Kamille soweit", nickt Inepha über die Schulter herüber und rührt einmal sachte im Topf um, als wollte sie ihre Worte mit dem nun aufsteigenden Duft unterstreichen. Der Geruch der Heilpflanze ist wirklich stark genug, alle anderen in dem kleinen Raum zurück zu drängen - für den Moment. Der Topf wird vom Feuer genommen, die Schwielen schützen die Hand vor der Hitze, oder es ist ihr egal.
"Es ist soweit, Imara."
Die Angesprochene nickt und presst die Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander. Die alte Frau greift mit beiden Händen nach den Decken, um sie eine nach der anderen bis zur Hüfte ihrer Patientin zurück zu schlagen. Mit knochigen Fingern, die jedoch niemals zittern, öffnet sie auch das leichte Hemdchen im Nacken und legt es aufs Bett zur Seite. Plötzlich ist der Kamillengeruch vergessen, als wäre er niemals vorhanden gewesen, und nur noch eine schwere, übelkeiterregende Süße ist im Raum. Der Geruch einer Wunde, die sich beharrlich weigert zu heilen.
Alma versucht sich nichts anmerken zu lassen, greift nach einem der Tiegel, öffnet ihn und reibt sich eine weißliche Paste auf ihre Oberlippen. Inepha tut es ihr gleich und kniet neben dem Bett der Mutter nieder. Für einen Moment verharren die beiden Frauen und betrachten den Verband um die Brust der Dritten. Braune Flecken bilden einen starken Kontrast zum Leinen das ebenso weiß ist wie die Haut darunter. Mit routinierten Handgriffen öffnet die eine den Verband, während die andere den Oberkörper ihrer Mutter anhebt. Ebenso sachte wird sie auch wieder abgelegt.
"Vorsicht", wird gemurmelt und Alma zieht mit spitzen Fingern und einem schnellen Ruck die letzte Lage von der Wunde, auf der sie noch festgeklebt war. Der Geruch ist unerträglich und wird durch die Duftpaste auf den Lippen der Frauen kaum gemindert. Es kommen zwei tiefe Schnitte zum Vorschein, die sich über die Brüste Imaras ziehen. Sofort klaffen sie leicht auf und zu den Seiten rinnt Eiter und Sekret aus allen Farben des Herbstlaubes herab. Verklebte Fäden bilden Brücken über die Gräben von einem gezackten Wundrand zum anderen. Rund herum ist das Fleisch der einst beneidenswerten Brüste aufgequollen und schrumpelig, tief gerötet von der Entzündung. Die Stirn der Heilerin legt sich in noch tiefere Falten.
"Wir werden wieder schneiden müssen. Inepha, wir brauchen einen weiteren Topf."
"Aye!", kommt eine knappe Antwort und die Angesprochene erhebt sich, ein Scheuer läuft ihr über das Gesicht. Sie wendet sich zum Tisch und nimmt von diesem einen flachen Zinntopf, der dort das Regenwasser aufgefangen hatte, welches weiterhin durch eine beachtliche Lücke zwischen den Schieferplatten herein rinnt. Mit einem Schwung landet das Wasser in einem bereits halb gefüllten Holzfass neben dem Kamin und die Tochter kommt ans Bett der Mutter zurück. Alma ergreift den Topf, wirft die alten Verbände hinein und stellt ihn neben sich auf den Steinboden. Inepha hat wieder ihre Position bezogen, bereit, ihre Mutter fest zu halten. Derweil gleitet Alams Blick zwischen der Wunde und ihren Instrumenten hin und her, um ab zu schätzen, wie sie zu beginnen hat. Als sie sich entschieden hat, nimmt sie ein Messer mit kurzer breiter Klinge und legt es parat. Dann ergreift sie kleinen Leinenstücke, taucht sie zuerst in den dampfenden Kamillentee und wischt damit die Wunde aus. In diesem Moment packt auch Inepha fest zu, hält mit einer Hand die dünnen Handgelenke ihrer Mutter fest, drückst sie mit der anderen an der Schulter auf ihr Lager. Imara bäumt sich mit leisem Winseln auf, doch ein schnell ausgetauschter Blick läßt die anderen beiden wissen, die Gegenwehr ist nicht so stark wie erwartet - nicht mehr.
Kurz leistet das aufgequollene Fleisch Widerstand, dann aber dringt die Kling ein. Alma stützt sich mit einer Hand ab und vollführt mit der anderen gezielte Schnitte um die Last ihrer Patientin zu mindern. Zwischendurch säubert sie die Wunde immer wieder mit getränktem Leinen von dem in Strömen hervorschießenden Blut. Der kleine Zinntopf quillt bereits über vor blutigem Leinen und totem Fleisch, als sich Alma aufsetzt und ihr Werk betrachtet. Die beiden Schnitte klaffen nun mehr als zwei Finger breit auf.
"Es ist eine Schande, dass sie Nähte nicht halten wollten und ausgerissen sind. Das können wir nun nicht noch einmal versuchen."
Alma sieht auf um sich Inephas stillschweigender Zustimmung zu vergewissern, dann öffnet sie ein weiters Tiegelchen.
"Aber Mitras Garten ist reich gedeckt für die, die ihn zu nutzen wissen. Bitterscharf, damit kann die Wunde von innen heraus heilen."
Mit zwei Fingern bestreicht sie nun dick die Wunden, reibt sie sachte ein, was Imara wiederum ein leises Stöhnen abnötigt. Nun werden wieder frische Leinenverbände aufgelegt und zusammen mit Inepha wiederholt sie das Prozedere für einen ebensolchen Brustverband. Kurz stiehlt sich ein ein erleichtertes Lächeln auf Imaras Lippen, als sie wieder auf ihr Krankenlager zurücksinkt.
Wortlos und leise huscht Inepha um die alte Frau herum um all das Blut zu entsorgen. Dann kehrt sie mit einer flachen Holzschüssel voll Wasser zurück, in welcher sich zuerst Alma, dann sie selbst die Hände wäscht. Sie kümmert sich auch um die Instrumente, kocht sie in frisch aufgesetztem Wasser auf, während sich Alma wieder über die Liegende beugt, deren Stirn und Plus befühlt.
"Es hat sie heute viel Blut und Kraft gekostet, aber die Wunde ist sauber. Heute Nacht machst du ihr kalte Umschläge, am besten mit Quark, wenn du welchen besorgen kannst."
Inepha sieht kurz von ihrer Arbeit an der Feuerstelle auf.
"Aye, das werde ich tun. Hab vielen Dank, Alma!"
"Danke nicht mir, Kind, bete zu Mitra. Dann sehen wir uns morgen wieder - für den Rest."
Sie tritt neben die junge Frau, legt ihr mit trostspendender Geste die Hand auf die Schulter und macht sich dann daran, ihre Sachen zu packen. Zum Abschied werden abermals Wangenküsse ausgetauscht und Inepha ist der alten Heilerin wieder mit der Türe behilflich.
"Mitra wach über euch, mein Kind."
"Und er begleite deinen Weg, Alma."
Inepha dreht sich um und ist wieder alleine im Haus - alleine mit ihrer sich unruhig windenden Mutter.