Robert Kurz
WER IST "BIG BROTHER"?
George Orwell und die Kritik der Moderne
In der Geschichte der Literatur hat es immer wieder bestimmte "Weltbücher" oder "Jahrhundertbücher" gegeben, die einer ganzen Epoche exemplarische Gestalt gaben und eine entsprechend große Wirkung erzielten, deren Echo bis heute nachhallt. Keineswegs zufällig ist die literarische Form solcher Werke immer wieder die Parabel. Diese Form erlaubt es, philosophische Grundgedanken so darzustellen, daß sie gleichzeitig als farbige und spannende Geschichte gelesen werden können. Eine solche Doppelnatur der Darstellung sagt dem theoretisch Gebildeten kognitiv etwas ganz anderes als dem Kind oder dem Jugendlichen, und doch können beide dasselbe Buch gleichermaßen begierig verschlingen. Gerade daraus speist sich der tief gehende Eindruck, den solche Werke im Bewußtsein der Welt hinterlassen; bis in die Topoi des Alltagsdenkens und der sozialen Imaginationen hinein.
Im 18. Jahrhundert waren es Daniel Defoe und Jonathan Swift, die mit ihren großen Parabeln der heraufdämmernden Welt der kapitalistischen Moderne literarische Paradigmen gaben. Defoes "Robinson" wurde zum Urbild des optimistischen, rationalen und weißen bürgerlichen Fleißmenschen, der in der "wilden" Insel der irdischen Welt als Haushalter seiner Seele und seiner ökonomischen Existenz planmäßig aus dem Nichts einen behagliche Platz schafft und nebenbei noch die farbigen "unterentwickelten" Menschen durch "Arbeit" zu wunderbaren zivilisierten Verhaltensweisen läutert. Swifts "Gulliver" dagegen irrt durch bizarre und erschreckende Fabelwelten, in denen sich die kapitalistische Modernisierung als beißende Satire und als Parodie auf Defoes "Tugenden des bürgerlichen Menschen" spiegelt.
Man könnte Swifts "Gulliver" als erste ahnungsvolle Negativ-Utopie der Moderne verstehen. Während diese Gattung im positivistischen und fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert wieder von der literarischen Bildfläche verschwand, erlebte sie im 20. Jahrhundert eine ungeahnte Blüte. Ein früher Vorläufer war bereits der Roman "Die Zeitmaschine" von H.G. Wells (1866-1946) aus dem Jahr 1895. Bei Wells finden wir eine Verlängerung der viktorianischen Klassengesellschaft bis in das Stadium ihrer vollständigen Degeneration, in der die Nachkommen der einstigen Kapitalisten als schöne, aber dumme und verspielte Zwerge auf der Erdoberfläche leben, während die Nachkommen der einstigen Arbeiterklasse sich zu unterweltlichen Wesen entwickelt haben, die sich kannibalistisch an ihren Antipoden mästen.
Unter dem Eindruck von Weltkriegen, Weltwirtschaftskrise und industriellen Diktaturen nahm die Gattung der Negativ-Utopie nicht nur einen Aufschwung, sondern sie verlagerte auch ihren Inhalt von der Soziologie des Klassengegensatzes auf die Vision eines einheitlichen totalitären Systems. Die düsteren Parabeln von Franz Kafka gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie die Werke einer populären negativen "Science fiction". Berühmt geworden sind die Romane "Wir" von Jewgeni Samjatin (1884-1937), geschrieben 1920 und erst 1925 auf englisch erschienen, "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley (1894-1963) aus dem Jahr 1932, vor allem aber die beiden einschlägigen Bücher von George Orwell (1903-1950), dessen Geburtstag sich nun zum hundersten Mal jährt: "Die Farm der Tiere", erschienen 1945, und die vielleicht bekannteste aller Negativ-Utopien: "1984", erschienen 1949.
Man kann sich leicht ausrechnen, auf welche Weise das Werk Orwells anläßlich dieses Jubiläums in der gegenwärtigen Welt eines globalisierten Kapitalismus von den konformistischen Lobrednern "gewürdigt" werden darf. Man wird Orwell bescheinigen, daß er ein großer demokratischer Mahner und Warner angesichts des totalitären Schreckens war, wie er sich in den Diktaturen Stalins und Hitlers manifestiert hatte. Und man wird ihm dankbar sein und behaupten, daß seine berühmten Parabeln dazu beigetragen hätten, die Menschheit in eine freiheitliche, marktwirtschaftlich-demokratische Zukunft zu führen, die heute fast schon erreicht sei. Schließlich wird man sagen, daß Orwells Werk uns dazu auffordere, vor den Versuchungen des Totalitarismus auf der Hut zu sein, wie sie immer wieder aus dem "Bösen" dieser Welt aufsteigen und die Menschheit heimsuchen könnten. Und man wird dabei auf den islamischen Fundamentalismus und auf Saddam Hussein oder Milosevic verweisen.
Auf einen Gedanken aber wird kaum einer der demokratischen Festredner zu Ehren Orwells kommen: Daß nämlich seine Negativ-Utopie längst Realität geworden ist und wir heute mitten im totalitärsten aller Systeme leben, dessen Zentrum der demokratische Westen selbst bildet. So hat sicherlich auch Orwell selbst nicht gedacht. Es liegt natürlich nahe, daß er aus der Perspektive der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich nichts anderes als die unmittelbare Erfahrung der Nazis und des Stalinismus im Auge hatte, als er seine Parabeln schrieb; ähnlich wie übrigens wenige Jahre später die Philosophin Hannah Arendt mit ihren Hauptwerken in den fünfziger Jahren. Große philosophische Werke und große literarische Parabeln haben es an sich, daß sie oft mehr sagen, als ihre Verfasser selber wußten, und daß sie ein überraschendes Licht auf spätere Verhältnisse werfen, die zur Zeit der Entstehung dieser Werke noch gar nicht in Betracht kommen konnten.
Schon die erste der Orwellschen Parabeln, die "Farm der Tiere", ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Oberflächlich betrachtet, handelt es sich um eine Fabel über die Vergeblichkeit aller sozialen Revolutionen, weil das Wesen der gesellschaftlichen Herrschaft, die Struktur der "Macht", immer gleich bleibe. Dieses Motiv nimmt eine Grundidee des postmodernen Denkens von Foucault vorweg, der ja ganz ähnlich eine Art positivistische "Ontologie der Macht" voraussetzt. Insofern ist Orwell eher ein anthropologischer Pessimist als ein Hurra-Ideologe der herrschenden Ordnung, auch wenn er wie alle Pessimisten zuletzt die bestehende Gesellschaft, in seinem Fall die angelsächsische, als die beste aller möglichen verteidigt hat. Nicht umsonst ist Orwell oft mit Swift verglichen worden.
Als glänzende Parodie auf die Geschichte der russischen Revolution, mit den Schweinen als bürokratischer Elite und dem Oberschwein Napoleon in der Rolle Stalins, liefert die "Farm der Tiere" natürlich alle Klischees des bürgerlichen Denkens über die Nutzlosigkeit und den verbrecherischen Charakter der sozialen Emanzipation. Aber die Parabel enthält auch einen ganz anderen Subtext, der Orwell selbst offenbar nicht bewußt geworden ist. Zum einen kann sie so gelesen werden, daß nicht die Idee der Emanzipation selbst, sondern die "verratene Revolution" (Isaac Deutscher) das Problem ist, indem die Schweine unter Führung Napoleons die tierische Egalität verraten. Zum andern enthält auch dieser Subtext noch einmal einen weiteren Subtext, in dem es gar nicht dieser "Verrat" der Schweine an der Revolution der Tiere ist, der die Emanzipation scheitern läßt, sondern das falsche Verständnis der Unterdrückung selbst, das nicht aus der Form hergeleitet wird, in der die Farm organisiert ist, sondern bloß aus dem subjektiven Willen des menschlichen Farmers namens Jones zur Ausbeutung der Tiere. So ersticken die Schafe regelmäßig jede Diskussion über den Sinn des gemeinsamen Vorgehens mit einem viertelstündigen gewaltigen Blöken des Slogans: "Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht!", der schließlich dadurch dementiert wird, daß sich die Schweine selber in "Zweibeiner" verwandeln.
Ungewollt gelangt Orwell so in seiner Parabel zu der impliziten Schlußfolgerung, daß nicht der soziologische Wechsel der Macht und ihrer Inhaber die Emanzipation ausmacht, sondern die Überwindung der gesellschaftlichen Form, also jenes modernen warenproduzierenden Systems, das den sozialen Klassen gemeinsam ist. Dabei schimmert sogar durch, daß die abstrakte "Arbeit" weder ein ontologisches Prinzip noch gar ein Prinzip der Emanzipation ist, sondern im Gegenteil das Prinzip der repressiven Macht, das die Tiere einem irrationalen Selbstzweck des "Produzierens um des Produzierens willen" unterwirft; symbolisiert in der Gestalt des ein wenig dummen Zugpferdes Boxer, einer Art Stachanow-Arbeiter, der alle Probleme mit der Devise "Ich will und werde noch härter arbeiten!" lösen will – nur um zuletzt von Napoleon an den Pferdemetzger verkauft zu werden, nachdem er sich verausgabt hat und nicht mehr arbeiten kann.
Noch deutlicher wird das jenseits des immanenten soziologischen "Klassenkampfs" liegende Problem der gemeinsamen Form des gesellschaftlichen Systemzusammenhangs in "1984", ein Buch, das stark an Samjatins Roman "Wir" erinnert (und vielleicht davon beeinflußt wurde). Vordergründig gibt es sowohl bei Samjatin als auch bei Orwell eine übermächtige und überlebensgroße Führergestalt, im einen Fall schlicht "der Wohltäter" genannt, im andern Fall als "Big Brother" bezeichnet; natürlich beide den staatstotalitären politischen Diktaturen der Zwischenkriegszeit nachgezeichnet. Aber auch hier schimmert ein Subtext durch, der weit über die expliziten Aussagen hinausgeht. Hinter der personifizierten Macht erscheint der anonyme, "versachlichte" Charakter des Totalitarismus: Samjatins "Wohltäter" entpuppt sich tatsächlich als intelligente Maschine, und auch Orwells "Big Brother" kann leicht als Metapher für eine anonyme Matrix systemischer Steuerung gelesen werden, die im heutigen ökonomischen Totalitarismus viel zwingender funktioniert als in den politischen Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Schon in "1984" ist das Unheimliche weniger der äußere Zwang als vielmehr die Verinnerlichung dieses Zwangs, der schließlich als Imperativ des eigenen Selbst erscheint. Der irrationale Selbstzweck der endlosen "Verwertung des Werts" durch abstrakte "Arbeit" will den selbstregulativen Menschen, der sich selbst im Namen anonymer Systemgesetze unterdrückt. Das Ideal ist die Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle des individuellen "Unternehmers seiner selbst" durch sein kapitalistisches Überich: Bin ich leistungsfähig genug, angepaßt genug? Liege ich im Trend, bin ich konkurrenzfähig? Die Stimme von "Big Brother" ist die Stimme des anonymen Weltmarkts; und die "Gedankenpolizei" der demokratischen Konkurrenz-Verhältnisse funktioniert viel raffinierter als der Zugriff aller Geheimpolizisten.
Das gilt auch für die berühmte "Orwellsche Sprache", das "Neusprech" mit seiner Verkehrung der Bedeutungen, das im Grunde schon seit mehr als 200 Jahren die Sprache des ökonomistischen Liberalismus ist. Wenn es im Namen von "Big Brother" heißt: "Freiheit ist Sklaverei", dann bedeutet das umgekehrt auch "Sklaverei ist Freiheit", nämlich die freudige Selbstunterwerfung unter die angeblichen "Naturgesetze" der marktwirtschaftlichen Gesellschaftsphysik. Das gilt auch für die anderen Parolen des "Neusprech": "Krieg bedeutet Frieden" – niemand weiß das besser als die NATO und die demokratische Weltmacht USA als selbsternannte Weltpolizei; und "Unwissenheit ist Stärke" – wer könnte diese Maxime besseren Gewissens unterschreiben als der demokratische Massenkonsument oder der betriebswirtschaftliche Manager, die beide für ihren Erfolg auf soziale Ignoranz angewiesen sind? Auch nur gedanklich die Kriterien dieses geschlossenen Wahnsystems der ökonomisch determinierten "Freiheit" in Frage zu stellen, heißt schon "out" zu sein, oder, wie es in "1984" heißt: "Das Gedankenverbrechen zieht nicht den Tod nach sich: Das Gedankenverbrechen ist der Tod", nämlich der soziale Tod.
Aus einer politischen Sekte kann man austreten und im totalitären Staat kann man wenigstens in die "innere Emigration" gehen; aber aus dem totalitären Markt kann der selbstregulativ gewordene kapitalistische Mensch ebensowenig austreten wie aus seinem eigenen Ich, das zum "Humankapital" geworden ist. Das Bewußtsein ist rückgekoppelt auf den allgegenwärtigen Mechanismus der Konkurrenz, unablässig sich selbst als Instrument der Verwertung kalkulierend und gleichzeitig sich selbst in den Formeln des neoliberalen ökonomistischen "Neusprechs" betrügend: "Leistungswahn ist Selbsterfahrung", "Selbstunterwerfung ist Selbstverwirklichung", "soziale Angst ist Selbstbefreiung" usw., oder, wie es schon fast 100 Jahre zuvor Rimbaud unübertrefflich als die Schizo-Devise des modernen Menschen formuliert hatte: "Ich ist ein anderer".
"Freiheit" bedeutet in dieser Welt nichts anderes, als zu wissen, was "Big Brother" oder "der Wohltäter", nämlich der totalitäre Markt, von den Menschen wollen könnte, es vorauszuahnen und sich in bedingungslosem vorauseilenden Gehorsam danach zu richten – oder eben auf der Strecke zu bleiben, seine soziale Existenz zu verlieren und vorzeitig zu sterben. Damit diese Sanktionen für die "Verlierer" eintreten, bedarf es gar keines bürokratischen Überwachungssystems mehr. Das erledigt ganz von selbst die unheimlich anonyme Macht der gesellschaftlichen Maschine des Kapitals, das zum totalen Weltverhältnis geworden ist. Diese Macht blinder Systemgesetze, von der die natürlichen und menschlichen Ressourcen vergewaltigt werden, hat sich von jedem sozialen Willen emanzipiert – auch von der Subjektivität des Managements.
In gewisser Weise ist die ganze Welt zu einer einzigen gigantischen "Farm der Tiere" geworden, in der es egal ist, ob ein Farmer Jones oder das Oberschwein Napoleon kommandiert, weil die subjektiven Kommandeure sowieso bloß die ausführenden Organe eines verselbständigten Mechanismus sind, der nicht eher ruht, bis er die Welt durch "Arbeit" zur leblosen Wüste gemacht hat. Auf dieser automatischen Welt-Farm wird jede kritische Frage nach dem Sinn und Zweck der ganzen irrsinnigen Veranstaltung sofort dadurch erstickt, daß die demokratischen Schafe in ein Ohren betäubendes Blöken von "versachlichten" Parolen ausbrechen: "Arbeit gut, Arbeitslosigkeit schlecht", "Konkurrenzfähigkeit gut, soziale Ansprüche schlecht" usw. Wenn wir die Orwellschen Parabeln ein wenig gegen den Strich bürsten, können wir uns selbst erkennen als die Gefangenen eines reif gewordenen Systems, dessen Totalitarismus die "Farm der Tiere" und "1984" fast als harmlos erscheinen läßt.